DAS JUCKEN
Kurzgeschichte
(2017)
Du wohnst seit einer Woche also in Wien. Noch dazu in der Straße, wo ich einmal wohnte.
Ich weiß nicht, wie du dazu kamst, in dieselbe Straße zu ziehen, aber gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt wohnte ich auch schon und natürlich kenne ich auch die
Regenschirmfiliale, was du nicht fragst. Nicht, dass ich die Lage besonders toll finden würde,
ich bin von dort ja auch wieder weggezogen, und zwar auf die andere Seite der Stadt, hinter
die zweitürmige Kirche, von der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale
bin ich direkt hinter die zweitürmige Kirche gezogen. Jeden Tag braucht es nur einmal ums
Eck des eigenen Hauses und schon sehe ich die zweitürmige Kirche, weil ich im
entscheidenden Moment vor der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale
hinter der zweitürmigen Kirche Zuflucht nahm. Außerdem kann ich von hier aus deutlich
genauer die gesamte Stadt überblicken und auch das Hauptuniversitätsgebäude entlang der
Ringstraßenpromenade ist nicht weit, nur durchs Fenster muss ich schauen, noch dazu durchs
einzige Fenster, das ich habe, denn die neue Wohnung hinter der zweitürmigen Kirche ist
nicht besonders groß, aber dafür kann ich nie in die falsche Richtung schauen, sondern nur
geradeaus und sehe es schon, geradeaus vor mir das Hauptuniversitätsgebäude entlang der
Ringstraßenpromenade.
Nun, ich dachte, ich wäre endlich weg von der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der
Regenschirmfiliale und jetzt wohnst du dort. Vorübergehend bis Juni, meinst du. Also gut,
dann vorübergehend bis Juni, aber überlege es dir gut, wohin du ziehst, wenn der Juni kommt
und ob nicht doch lieber gleich wieder zurück nach Berlin, wo du ja ganz normal gewohnt
hast, bevor du in die Straße gezogen bist, wo ich einmal wohnte, und das sogar ohne zu
wissen, dass vor dir auch ich schon dort wohnte, und das alles nur, weil dein Bekannter seine
Wohnung gegenüber der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale nicht
aufgeben wollte. Alter Mietvertrag, meinte er, verstehe ich auch, die jungen, scharfen
Mietverträge im modernen Wien von heute, ach, ich weiß, wir alle versuchen über die
Runden zu kommen, so auch dein Freund und du und ich. Also gut, bist du also hingezogen, um der alten Miete willen, und hast die winzige Garçonnière bezogen. Die geräumige
Templerhofwohnung hast du für die winzige Garçonnière gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale eingetauscht, der alten Wiener
Miete zuliebe, inmitten dieses lauwarmen, fleischlosen, irrgartenartigen,
habsburgersehnsuchtserfüllten Sumpfs, wo nichts weitergeht, wo alles stecken bleibt, sich
anhäuft und abläuft, für diese Selbstkompostierung, für diesen Zerfallsprozess, für diese
freiwillige Selbstverstümmelung, für diesen - wie gesagt - irrgartenartigen Witz, dafür hast du
die geräumige Templerhofwohnung in fremde Hände geschoben. Und du glaubst wirklich, du
wirst von hier aus arbeiten können, du kannst ja von fast überall aus arbeiten, meinst du, deine
Kunstmarktkritiken schreiben, in der winzigen Garçonnière gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale glaubst du, deine
Kunstmarktkritiken schreiben zu können, und bist in sie eingezogen. Und das alles, während
ich in New York war, innerhalb von drei Wochen ist es passiert, während der Winter zum
Frühling wurde, so schnell, so allzu rasch, dass ich dich vor der Gegend gar nicht warnen
konnte und ich hätte dich ja so gut warnen können, da ich ja auch schon in ihr wohnte, in der
Gegend, und ihre Gefahr kenne, ich hätte dich warnen können, wie sie ist, dass sie dich
allmählich verschlingen wird, sich wie ein Parasit in dir ausbreiten wird, in all deine Zellen
eindringen wird, angefangen bei der Haut; sie wird eine, vielleicht zwei, höchstens drei
Wochen warten und dann wird sie eines Tages anfangen ganz leise, aber gezielt, sodass du
nichts merkst, auf dir hochzuklettern, du wirst glauben, etwas juckt dich, aber du wirst nicht
wissen, woher es kommt und wo genau du dich kratzen sollst, denn du wirst nicht erkennen
können, dass es eigentlich die Gegend ist, die dich juckt und nichts Akutes, was du
wegkratzen könntest. Du wirst das Jucken nicht ernst nehmen, aber am nächsten Tag wird es
dich wieder jucken und am übernächsten auch und am überübernächsten immer noch und
immer mehr wird es dich jucken, aber du wirst dich nirgendwo kratzen können. Da wirst du
dich zum ersten Mal fragen, was dich da eigentlich juckt, denn kratzen wirst du dich
nirgendwo können, doch zu dem Zeitpunkt wird die Gegend gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale schon so weit an dir hochgeklettert
sein, dass sie durch die Nasenlöcher, die Mundöffnung und den Ohrkanal in dein Inneres
hineinrutschen wird und wenn sie einmal so weit ist, wenn sie tatsächlich in dein Inneres
hineingerutscht ist, weil du unaufmerksam warst, wird sie sich noch viel, viel schneller
ausbreiten als auf deinem äußerlichen Körperbereich. Weil du dir, unaufmerksam wie du
warst, schon wieder nichts gedacht hattest; Niesen, Husten, Pfeifen im Ohrkanal, jeder hat
einmal Niesen, Husten und Pfeifen im Ohrkanal, wirst du dich naiv trösten, aber während du dich so naiv trösten wirst, wird die Gegend weiter in deine Gewebsflüssigkeit hineinrutschen,
sich mit deiner Lymphe vermischen, sich in deinem Blutplasma ausbreiten und letztendlich
dein gesamtes Immunsystem überfallen. Und da, du dir nichts denkender, du
unaufmerksamer, du dich naiv tröstender Kunstmarktkritikschreiber, ist es dann endgültig zu
spät. Zuerst wirst du eine leichte Tiefstimmung verspüren, aber schon wieder wirst du dir
nichts denken, denn das hat doch jeder ab und zu, in deiner Templerhofwohnung ist dir das
auch schon einmal passiert. Doch die Tiefstimmung wird immer mehr einer leichten
Depression ähneln. Da wirst du anfangen, über eine therapeutische Behandlung
nachzudenken, denn nicht nur, dass die Tiefstimmung immer mehr einer leichten Depression
ähneln wird, sondern sie wird sich sogar allmählich in eine leichte Depression, danach in eine
reine Depression und im Endeffekt in eine schwere Depression verwandeln und deine
Freunde werden es satt, die Mistkübel für deine Tiefstimmung zu sein, die immer mehr einer
leichten Depression ähneln wird und sich allmählich in eine reine Depression und im
Endeffekt in eine schwere Depression verwandeln wird, und sie werden dir, einer nach dem
anderen, ihre Freundschaft entziehen, sodass du fünf, vielleicht sechs, höchstens aber sieben
Wochen nach deinem Einzug in die winzige Garçonnière gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale infiziert und ohne Freunde in der
winzigen Garçonnière liegen wirst, und dir außer einer therapeutischen Behandlung nichts
mehr vorstellen können wirst, auch dein Kunstmarktkritikschreiben nicht. Du wirst dir also
eine therapeutische Behandlung suchen und bei ihr bleiben. Denn sie wird nichts bringen, sie
wird mit deiner Infektion nämlich falsch umgehen, dich falsch behandeln, in deiner Psyche
wird die therapeutische Behandlung nach der Ursache der Tiefstimmung suchen, die immer
mehr einer leichten Depression ähnelte, sich allmählich in eine reine Depression und
letztendlich in eine schwere Depression verwandelte, ohne zu ahnen, dass es nicht deine
Psyche war, die infiziert wurde, sondern die Gegend gegenüber der Polstermöbelwerkstatt in
der Nähe der Regenschirmfiliale circa vier Wochen nach deinem Einzug in die winzige
Garçonnière angefangen hatte, an dir hochzuklettern, durch die Nasenlöcher, die
Mundöffnung und den Ohrkanal in dein Inneres hineingerutscht ist und danach noch viel, viel
schneller als im äußerlichen Körperbereich in deine Gewebsflüssigkeit hineingerutscht ist,
sich mit deiner Lymphe vermischte, sich in deinem Blutplasma ausbreitete und letztendlich
dein gesamtes Immunsystem überfallen hatte. Auf diese Hypothese wird die therapeutische
Behandlung selbstverständlich nie kommen, während du infiziert auf ihrem Sofa liegen wirst,
wie sollte sie auch auf diese Hypothese kommen, denn die therapeutische Behandlung
behandelt ja nicht in jener Gegend, die dich infiziert hatte, denn du hast instinktiv nach einer therapeutischen Behandlung gesucht, die in einer anderen Gegend als jener, die dich infiziert
hatte, behandelt. Aber auch die therapeutische Behandlung wird immer tiefer in deine Psyche
hineinrutschen, sie wird dich immer öfter auf ihrem Sofa liegen sehen wollen, sie wird deine
Psyche neu aufsetzen wollen, als wärst du ein System, das man neu aufsetzen könnte und kein
von der eigenen Familie geprägter Psycheträger, doch anfangs wirst du der therapeutischen
Behandlung vertrauen, du wirst Hoffnung in dir verspüren, denn dein Leben als von der
eigenen Familie geprägter Psycheträger brachte dich bis zu dem heutigen Tag auch zu nichts
prickelnderem als zu einem vom Staat eingeschüchterten, steuerpflichtigen
Kunstmarktkritikschreiber, der die Templerhofwohnung für die winzige Garçonnière
gegenüber der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale eingetauscht hatte,
der alten Wiener Miete zuliebe, und dass in einer Gegend, die dich infiziert hatte und vor der
du dich nicht einmal warnen ließest. Außer der therapeutischen Behandlung wird dir also
nichts mehr übrig bleiben, weder dein Kunstmarktkritikschreiben, das auf dem Tisch in der
winzigen Garçonnière, wo du so naiv glaubtest, schreiben zu können, neben einem offenem
Kugelschreiber liegen blieb, noch deine Freunde, die dir einer nach dem anderen ihre
Freundschaft entzogen hatten, weil sie es satt wurden, die Mistkübel für deine Tiefstimmung
zu sein, die immer mehr einer leichten Depression ähnelte und sich allmählich in eine reine
Depression und im Endeffekt in eine schwere Depression verwandelte. Du wirst so lange auf
dem Sofa der therapeutischen Behandlung liegen bleiben, bis auch deine Psyche sowie dein
gesamtes Immunsystem dermaßen infiziert wurden, dass du dich für die Flucht entschließen
wirst. Und du wirst flüchten, du wirst genauso wie ich vor der Gegend und der
therapeutischen Behandlung flüchten, ohne überhaupt zu wissen, dass du vor der eigenen
Gegend und der eigenen therapeutischen Behandlung flüchtest, und egal wohin in der Stadt
du flüchten wirst, du wirst die beiden nie los, bis auch du begreifen wirst, dass du hinter die
zweitürmige Kirche flüchten musst, dass du dich hinter der zweitürmigen Kirche verstecken
musst, so wie auch ich es getan habe, und zwar schnellstmöglich, innerhalb von zwei Wochen
war ich heraus aus der Gegend, am anderen Ende der Stadt hinter der zweitürmigen Kirche
nahm ich Zuflucht vor der Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale und vor
der therapeutischen Behandlung. So weit bist du aber noch nicht, im Moment glaubst du immer noch, du wirst aus der
winzigen Garçonnière heraus arbeiten können, deine Kunstmarktkritiken schreiben. Wie
leicht ich dich hätte warnen können! Ich hätte es dir erklären können, dass es nicht
funktionieren wird, dass dich deine anfängliche Euphorie auf den Leim führen wird, dass dir
eine doppelte Infektion droht, die deines gesamten Immunsystems und die deiner Psyche, ich hätte es so gerne getan, aber ich konnte es nicht tun, weil ich auf einem anderen Kontinent
war und das Ganze viel zu schnell passiert ist, während der Winter zum Frühling wurde.
So kam ich wieder zurück und am ersten Tag nach meiner Rückreise sah ich schon, obwohl
ich wegen des Zeitunterschieds und der daraus resultierenden Müdigkeit nur selektiv Dinge
auswählte, die ich sehen wollte, aber da sah ich trotzdem ein Foto auf deinem Profil; du hast
die Schrift der Polstermöbelwerkstatt als dein Titelbild eingestellt, direkt über das Zentrum
deiner Glatze hast du mit der Maus das Bild der Polstermöbelwerkstattstafel zentriert; da
schluckte ich schon einmal schwer, aber reagierte noch nicht, es kann ja alles sein, dachte ich
mir, es kann ja alles sein, vielleicht ein Fetisch, wer weiß. Doch am nächsten Tag, am zweiten
Tag nach meiner Rückreise, als ich wegen des Zeitunterschieds und der daraus resultierenden
Müdigkeit weiterhin selektiv gewollt-gesehene Dinge auswählte und noch dazu ein
klassisches Konzert hatte, sah ich schon das nächste Foto, vom Zenta Café. Da starrte ich in
den Bildschirm und schluckte, reagierte aber immer noch nicht, ich sollte noch abwarten,
weil heutzutage alles sein kann, dachte ich mir, heutzutage kann wirklich alles sein. Aber am
dritten Tag nach meiner Rückreise und selektiver Dingselektion sah ich auf deinem Profil
stehen, du würdest tatsächlich in Wien wohnen. Und da - nicht dass ich schluckte – nein, da
hat sich mein ganzer Schluckapparat blockiert, ich versuchte den Speichel durch den
Schluckapparat hinunter zu kriegen, aber der Schluckapparat hat sich blockiert und blieb
lebensbedrohlich lange blockiert und ich hastete und hastete wie ein Pantomimefisch in
Atemnot, du hättest mich fast umgebracht am dritten Tag nach meiner Rückreise mit all den
Informationen auf deinem Profil, wieso stellst du auch all diese Informationen auf dein Profil,
ich hastete und hastete wie ein Pantomimefisch in Atemnot, wartete aber doch noch eine
Nacht. Am vierten Tag nach meiner Rückreise, also heute Morgen, schrieb ich dir, als wäre
nichts gewesen, ganz nüchtern schrieb ich dir, ob du nun in Wien leben würdest. Als würde
ich überhaupt nichts wissen, als würde ich nicht ohnehin schon alles über deinen Einzug in
die Straße, wo auch ich einmal wohnte, wissen, als würde es mich nichts angehen, dass du
jene Gegend bezogen hast, die mich infiziert hatte, so wie sie nun auch dich infizieren wird
und ich dich davor nicht einmal warnen durfte. Und du sagtest, ja tatsächlich, vorübergehend
bis Juni. Und da schrieb ich dir, na sowas und das in der Straße, wo einmal ich wohnte,
gegenüber der Polstermöbelwerkstatt und da fragtest du mich, ob ich denn auch die
Regenschirmfiliale in der Arbeitergasse kenne und ich sagte, ja natürlich kenne ich die
Regenschirmfiliale in der Arbeitergasse, ich habe ja dort gewohnt und dass viel früher als du!
Ob ich denn die Regenschirmfiliale in der Arbeitergasse kenne. Na, was soll ich sagen, dass du einfach so dahin ziehst, ohne dich zumindest davor warnen zu lassen, damit habe ich
tatsächlich nicht gerechnet, da hast du mich überrollt. Bevor ich aus der Gegend flüchtete, gab
es zumindest noch die kleine Billafiliale und die bleichblondgefärbte Delikatessverkäuferin,
die meine Sticker für ihren Sohn einsammelte. Wegen der Vorteilskarte bekam ich die Sticker
bei jedem Einkauf gratis. Schon bei Obst und Gemüse, noch ganz am Anfang der Filiale,
versuchte sie seitlich den Blickkontakt mit mir aufzunehmen, während ich mich nach
Bananen streckte. Wegen der Sticker für ihren Sohn regelte sie es immer so, dass sie sich von
der Delikatessentheke immer mehr der Kasse näherte, je mehr auch ich mich der Kasse
näherte, ich tat jedes Mal so, als würde ich nichts merken, ich blieb eben sehr diskret, und als
ich bei den Milchprodukten und Käsespezialitäten stand, sozusagen bei der Endstation, also
schon ganz knapp bei der Kasse, hörte ich ihre Stimme aus den Lautsprechern, wie sie die
Kassiererin aufforderte ins Lager zu gehen, sodass sie hinter ihrem Rücken die Kasse
übernehmen konnte. Jedes Mal schaffte sie es, ihre Position als Delikatessverkäuferin für die
der Kassiererin einzutauschen, damit sie mich hinter der Kassentheke empfangen konnte und
nach meiner erfolgreichen Zahlung auch meine Sticker, denn ich habe ja keinen Sohn, wie sie
wusste, für den ich die Sticker sammeln würde, danach hat sie sich bei mir nach meiner ersten
Bezahlung nämlich erkundigt, als sie intuitiv die Position der Kassiererin einnahm, da sie
offenbar spürte, ich habe vermutlich keinen Sohn, als ich die Sticker samt der Rechnung
liegen ließ, so wie ich das immer mit allen Rechnungen machte, aus Protest gegen die
Kindheitserinnerungen an die Einkäufe mit meiner Mutter. Meine Mutter trug täglich einen
länglichen Notizblock aus dunkelblauem Wildlederstoff in ihrer Tasche, in den sie nach
jedem Einkauf die ausgegebene Summe eintrug und hinten die Rechnung beilegte. Aber das
machte sie nicht abseits der Kasse oder zuhause, wo niemand zuschaute, nein, sie zog den
länglichen Notizblock aus dunkelblauem Wildlederstoff direkt an der Kasse heraus und trug
mit penibler Handschrift die ausgegebene Summe in den Notizblock ein, sodass sie die
Konsumentenschlange hinter ihr blockierte und die Kassiererin nicht weiterkassieren konnte.
Zuerst bewunderte ich meine Mutter dafür, so mächtig und situationsbeherrschend, wie sie
ihren länglichen Notizblock aus dunkelblauem Wildlederstoff herauszog und ihn auf der
Kassatheke ausbreitete und die Summen hineinschrieb, später schämte ich mich für ihre
offensichtliche Ignoranz den anderen Konsumenten gegenüber. Ich war noch ganz klein, aber
mir wurde es gleich unwohl in den Knien, als ich die Hand meiner Mutter sah, wie sie nach
der erfolgreichen Zahlung in ihre Tasche griff und langsam den länglichen Notizblock aus
dunkelblauem Wildlederstoff herauszog, ihn auf der Kassatheke ausbreitete und die
Konsumentenschlange hinter ihr blockierte, ohne es überhaupt zu merken, denn meine Mutter war kein auf sich selbst fixierter Mensch, ganz und gar nicht, meine Mutter kümmerte sich ihr
Leben lang um andere Menschen und war stets auf die Dinge außerhalb von sich selbst fixiert
und ebenso auf die Summen, die sie von ihrer zwanghaft peniblen Natur getrieben, direkt
nach der erfolgreichen Zahlung in ihren länglichen Notizblock aus dunkelblauem
Wildlederstoff eintragen musste. Das war der wahre Grund, warum sie die
Konsumentenschlange hinter sich blockierte und nicht die Fixierung auf sich selbst, wie man
sich als Konsument in der blockierten Konsumentenschlange vielleicht denken würde. Ach,
meine arme Mutter, wohin hat sie ihr Notizblock gebracht, jahrelang - jahrzehntelang! - war
sie so auf die Zahlen und Summen in ihrem Notizblock fixiert, dass sie die Orientierung
verlor, als es darum ging, größer zu denken, und investierte ihre Aktien, aber nicht nur ihre,
sondern auch die Aktien ihrer Kinder, also auch meine, und die ihres Mannes - schließlich hat
sie Ökonomie studiert - an ein Unternehmen, das ein halbes Jahr später in Konkurs ging und
fixierte sich seitdem noch verbissener auf das Eintragen der ausgegebenen Summen in den
inzwischen hochformatigen Notizblock aus dunkelgrünem Kunstlederstoff. Diese Erinnerung
hat sich so tief in mir verankert, dass ich, als ich anfing, selbstständig meine Rechnungen zu
bezahlen, alle Rechnungen, egal wo und zu welchem Zeitpunkt des Einkaufs, liegen ließ.
Aber jetzt gibt es nicht einmal die kleine Billafiliale mit der bleichblondgefärbten
Delikatessverkäuferin, die dich an solche Episoden aus deiner Kindheit erinnern könnte; als
ich hinter die zweitürmige Kirche zog, verschwand nämlich auch die kleine Billafiliale, nur
noch einen Hofer gibt es in der Diagonalstraße, wo die Verkäuferin gezwungen wird, viel zu
schnell zu arbeiten, dass es sich dabei noch ausgehen würde, die Sticker für ihren Sohn zu
sammeln.
Also überlege es dir gut, wohin du im Juni ziehst, denn es soll dir klar sein, dass ich dich nie
ernst genommen habe. Ich habe dich ganz von Anfang an nicht ernst genommen. Schon bevor
die Schinkenfleckerlparty in der Radetzkystraße überhaupt losging, nahm ich dich nicht ernst.
Du hast mich einfach amüsiert, so wie du mir gegenüber am Tisch gesessen bist, wie
Bernhard in Holzfällen, irritiert von der Schinkenfleckerlpartygesellschaft, und angefressen
die Nachspeise abgelehnt hattest, die durchlöcherten, heißgekochten Äpfelchen mit
Marzipanfüllung wolltest du nicht haben, du hast dich lieber mit allen fünf Fingern an der
kleinen Espressotasse festgeklammert. Wie der Bernhard in Holzfällen, nur weniger schön,
dachte ich mir, ein paar Mal hast du mit den Wangen gezuckt, als der Mann über die
berühmte Komponistin geschimpft hatte und dann bist du vom Tisch gegangen. Ich griff nach
dem dicken, schwarzen Kater, nahm ihn auf den Schoß und wir folgten dir und warteten auf dich im Zimmer nebenan. Natürlich küssten wir uns dann, warum sollten sich zwei fremde
Menschen um zwei in der Früh in der Radetzkystraße mit dem dicken, schwarzen Kater
dazwischen auch nicht küssen, wir sind ja alle frei, aber man muss sich doch nicht gleich so
hineinsteigern. Du hast dich aber hineingesteigert, weil ich dich mit dem dicken, schwarzen
Kater im Schoss geküsst hatte. Aber das alles tat ich doch überhaupt nicht deinetwegen oder
weil ich dich toll oder zumindest spannend gefunden hätte, so wie du zwei Tage davor meinen
Auftritt spannend gefunden hattest, was ich übrigens als Beleidigung empfand; nein, das alles
tat ich nur, weil du die durchlöcherten, heißgekochten Äpfelchen mit der Marzipanfüllung
nicht haben wolltest und mich an Bernhard in Holzfällen erinnertest, das war eine
Verwechslung von mir. Gleich am nächsten Tag, als ich in die klassische Orchesterprobe
fuhr, den ganzen Weg hin zum Musikverein klingelten und zingelten deine Nachrichten auf
meinem Handy und mir wurde klar, dass du gerade anfängst, dich hineinzusteigern und dir
überhaupt nicht klar ist, dass das Ganze eine Verwechslung war, dass ich dich mit Bernhard
aus Holzfällen verwechselt hatte, dich als dich, abgesehen von der Verwechslung mit
Bernhard aus Holzfällen, nicht ernst nehmen kann und du deswegen auch mich nicht ernst
nehmen kannst und das Ganze eine unabsehbare Verwechslung mit Bernhard aus Holzfällen
war und nichts mit dir zu tun hatte. Selbst wenn es keine Verwechslung mit Bernhard aus
Holzfällen gewesen wäre, kannst du dich ja allgemein nicht so hineinsteigern in einen Kuss
von zwei in der Früh in der Radetzkystrasse bei der Schinkenfleckerlparty. Ich hätte jeden
geküsst, weil es eben eine Verwechslung mit Bernhard aus Holzfällen war und du der Einzige
warst, den ich an jenem Abend verwechselt hatte und dem ich mit dem dicken, schwarzen
Kater im Schoß wegen der Verwechslung also überhaupt folgen konnte. Und was diese
Verwechslung mit Bernhard aus Holzfällen angeht - ja, das ist nun mal mein Lieblingsbuch,
jeder hat sein Lieblingsbuch, das wirst du als Kunstmarktkritikschreiber wohl wissen! Aber
nein, es wurde noch viel schlimmer, denn du hast dich in den weiteren Tagen, als ich längst
schon auf der klassischen Orchesterkonzertreise war, nämlich dermaßen in meine rein von
deiner Phantasie erschaffene Erscheinung hineingesteigert - denn du konntest mich ja nicht
sehen, da ich auf der klassischen Orchesterkonzertreise war - dass du mit dem Auto von
Berlin nach Wien gefahren bist, um mich zu sehen, und nicht nur das, du wolltest sogar, dass
ich mit dir in deinem Auto rückwärst von Wien nach Berlin fahre und deine
Templerhofwohnung beziehe, die du inzwischen für die winzige Garçonnière gegenüber der
Polstermöbelwerkstatt in der Nähe der Regenschirmfiliale eingetauscht hast, wo es nicht
einmal mehr die kleine Billafiliale mit der bleichblondgefärbten Delikatessverkäuferin gibt,
die dich an Episoden aus deiner Kindheit erinnern konnte. Aber leider habe ich, nachdem du nach der neunstündigen Fahrt von Berlin nach Wien dein Auto hinter der zweitürmigen
Kirche geparkt hattest, und mit einem Blumenstrauß an meiner Tür erschienen bist, nur den
Blumenstrauß entgegengenommen und nicht dich. Warum steigerst du dich auch so in die
Dinge hinein, die offensichtlich nichts mit dir zu tun haben, sondern ganz offensichtlich mit
einer Verwechslung mit Bernhard aus Holzfällen.
Zumindest gegen Ende des Jahres hast du dich ein bisschen beruhigt, aber als ich dir am
dreißigsten Dezember zum Geburtstag gratulierte und am einunddreißigsten Dezember, also
am Tag danach, ein frohes neues Jahr wünschte, hast du dich gleich wieder in mich
hineingesteigert, als hättest du deine Lektion nicht schon damals gelernt, als ich nach deiner
neunstündigen Autofahrt von Berlin nach Wien nur deinen Blumenstrauß entgegennahm, aber
nicht dich. Nur weil du so knapp hintereinander, zweimal in zwei Tagen, von mir gehört hast,
hast du wieder angefangen dich in mich hineinzusteigern, dabei hatte es ja nicht einmal mit
dir zu tun, dass du zweimal in zwei Tagen, also am Dreißigsten und am Einunddreißigsten,
von mir gehört hattest, es ist einmal so, dass dein Geburtstag und das neue Jahr so knapp
beieinanderliegen, du hast dich doch selber beschwert, wegen der Geschenke; dass du jedes
Jahr ein Paket geschenkt bekommen hattest, das aber für beide Tagen gelten musste, also für
deinen Geburtstag und für das neue Jahr, und dass deine Eltern die Tatsache ausnutzten, dass
dein Geburtstag und das neue Jahr so knapp beieinanderlagen, so hast du mir das bei der
Schinkenfleckerlparty erzählt, bevor ich dich mit Bernhard aus Holzfällen verwechselt habe,
dir mit dem dicken, schwarzen Kater folgte und du anfingst, dich in mich hineinzusteigern.
Also wollte ich nicht wie deine Eltern handeln und dir nur eine Gratulation schicken, die für
beide Tage gelten sollte, da ich ja immerhin ein sensibler Mensch bin, sondern ich musste dir
zweimal in zwei Tagen eine Gratulation schicken, also schickte ich dir eben „Alles Gute zu
deinem Geburtstag“ und „Frohes Neues Jahr“ zum allgemeinen neuen Jahr. Trotzdem hatte
das ja nichts mit dir zu tun, dass ich dir zwei Gratulationen schickte, sondern mit der
Tatsache, dass die beiden Tage so knapp beieinanderlagen, der Dreißigste und der
Einunddreißigste, du hast aber sofort angefangen, dich in mich hineinzusteigern. Und so
kamst du wieder nach Wien und hast für einen ganzen Monat die Radetzkystraße, wo die
Schinkenfleckerlparty stattfand, bezogen. Und da dachte ich mir, du solltest deine Lektion
diesmal aber ein und für allemal lernen und dich nicht mehr so in mich hineinsteigern und traf
dich einen ganzen Monat lang nicht. Am Valentinstag war ich gerade dabei, mir zu denken, es
hätte diesmal funktioniert, und dass du deine Lektion endlich gelernt hättest, als es plötzlich
aus heiterem Himmel heraus an meiner Tür klingelte und statt dir eine fremde Frau mit
deinem Blumenstrauß vor meiner Tür stand und mir im Auftrag von dir einen schönen Valentinstag wünschte. Ich war davon, dass sich ihre Lippen im Auftrag von dir bewegten, so
schockiert und zugleich so wütend auf dich, da mir ja sofort klar wurde, als sie so vor mir
stand und die Lippen im Auftrag von dir bewegte, dass du deine Lektion immer noch nicht
gelernt hattest, noch dazu wurde mir das in einem Moment klar, wo ich doch gerade kurz vor
diesem Moment, als mir sofort klar wurde, dass du deine Lektion immer noch nicht gelernt
hattest, gerade dabei war, mir zu denken, dass du deine Lektion nun doch endlich gelernt
hättest, ich war, wie gesagt, so schockiert und zugleich so wütend auf dich, dass ich, als sich
die Lippen der fremden Frau im Auftrag von dir bewegten, in ihr Gesicht loslachte und die
Tür grußlos zuknallte. Und ganz ehrlich, so einen pervers aussehenden Blumenstrauß habe ich
überhaupt noch nie im Leben gesehen, mit dieser roten Blüte inmitten. Aber gut, Natur ist
Natur, selbst wenn sie pervers aussieht und etwas Lebendiges - selbst wenn es eine derart
pervers aussehende rote Blüte ist - kann ich doch nicht in den Mistkübel schmeißen. Also
stellte ich die pervers aussehende rote Blüte in die Vase ins Vorzimmer und ich schwöre es
dir, jedes Mal, jedes Mal wenn ich an der pervers aussehenden roten Blüte vorbeiging, musste
ich tief ausatmen und die Augen zudrücken. Ich war erleichtert, als nach einer Woche die
Blütezeit der pervers aussehenden roten Blüte vorbei war und ich sie mit gutem Gewissen
entsorgen durfte und endlich wieder ohne ausatmen zu müssen und Augen zudrücken zu
müssen mein Vorzimmer durchqueren konnte. Dass du neben der pervers aussehenden roten
Blüte einen Stick beigelegt hast, den ich an mein von den ganzen Dateien sowieso schon
überfordertes System anschloss und dieses sofort danach zusammenbrach und ich ihn in die
Reparatur bringen musste, mein ganzes von den ganzen Dateien sowieso schon überfordertes
System musste ich in die Reparatur bringen, und dass an einem Tag, an dem auch ich,
genauso wie mein von den ganzen Dateien sowieso schon überfordertes System, selbst
sowieso schon überfordert war, weißt du schon, denn ich habe dich darüber auch
benachrichtigt, gleich nachdem mein von den ganzen Dateien sowieso schon überfordertes
System zusammenbrach, habe ich dich benachrichtigt, dass wegen deines verdammten Sticks
mein ganzes von den ganzen Dateien sowieso schon überfordertes System zusammenbrach,
und du dich verdammt noch mal nicht so in mich hineinsteigern sollst und endlich deine
Lektion lernen sollst.
Jedenfalls, überlege es dir gut, wohin du im Juni ziehst, wenn der alte Mietvertrag abgelaufen
ist, der alte Mietvertrag, den du von deinem Bekannten übernommen hast und der alten
Wiener Miete zuliebe in die winzige Garçonnière gegenüber der Polstermöbelwerkstatt in der
Nähe der Regenschirmfiliale gezogen bist, in die Straße, wo auch ich einmal wohnte, als es noch die kleine Billafiliale mit der bleichblondgefärbten Delikatessverkäuferin gab, die meine
Sticker für ihren Sohn einsammelte, überlege es dir gut, wohin du danach ziehst und ob doch
nicht lieber gleich zurück nach Berlin in die geräumige Templerhofwohnung, wo du auch
früher ganz normal gewohnt hast, bevor du dich in mich hineingesteigert hast, denn ich bin
nicht ernst zu nehmen, so wie keine Küsse von zwei in der Früh mit einem dicken, schwarzen
Kater im Schoß dazwischen ernst zu nehmen sind. Noch dazu fliegt in drei Wochen mein
Flieger nach Japan und wer weiß, wen ich dort am Tisch bei Sushi und Sashimi mit Bernhard
aus Holzfällen verwechseln werde, so wie ich dich damals bei der Schinkenfleckerlparty in
der Radetzkystraße verwechselt hatte und du anfingst, dich in einen Kuss von zwei in der
Früh hineinzusteigern.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen