DIE ANSTECKUNG
Auszug aus einer
Kurzgeschichte
(2017)
(2017)
Die Warteschlange vor der Damentoilette ist
schon wieder lang. Marianne denkt sich, ich brauche so lang, dabei warte ich
hier vor der Tür, zehn Minuten warte ich schon hier vor der Tür. Sie braucht so
lang, denkt sich Marianne, aber das tue ich nicht, ich brauche ganz kurz, wenn
ich einmal drinnen bin, aber das bin ich nicht, ich bin nicht drinnen, ich bin
immer noch draußen, vor der Tür in einer langen Warteschlange bin ich. Ich
starre auf das kleine Bild, Jane Fonda sitzt in einem glänzenden weißen Kostüm
aus den siebziger Jahren mit gestreckten Armen in einem leeren Kinosaal, auf
ihren Bauch hat das Cafémanagement mit einem schwarzen Stift Damen drauf geschrieben. Jane Fonda
verweigert mit ihren gestreckten Armen den Eintritt all jenen, die nicht zu den
Damen gehören, das zumindest hat sich das Cafémanagement dabei gedacht, als es
mit einem schwarzen Stift auf Jane Fondas Bauch Damen hinkritzelte, denke ich mir in einer langen Warteschlange.
Auf der Wand ist eine silberne Lampe befestigt, bestimmt vom Bruno, ich kenne
ganz genau sein Design, diese glänzenden Octopuslaternen, ich finde sie sehr
schön, das habe ich ihm so direkt ins Gesicht aber noch nie gesagt, obwohl ich
den Menschen meistens alles direkt ins Gesicht sage, aber Bruno habe ich das so
direkt noch nicht ins Gesicht gesagt, weil wir uns hauptsächlich von Facebook
kennen, und auch seine glänzenden Octopuslaternen kenne ich hauptsächlich von
Facebook und auf Facebook kann ich ihm das nicht so direkt ins Gesicht sagen,
dass ich sie superschön finde, seine glänzenden Octopuslaternen, das kann ich
Bruno auf Facebook nicht direkt ins Gesicht sagen, ich kann es höchstens liken,
wenn er Mal ein Bild von so einer neuen glänzenden Octopuslaterne postet und
hoffen, dass er weiß, was ich ihm damit sagen will, selbst wenn ich es ihm
nicht direkt ins Gesicht sage, aber wenn ich sie dann ab und zu in einem Café
wie zum Beispiel jetzt gerade oder durch das Schaufenster einer Galerie hängen
sehe, erkenne ich sie sofort, diese glänzenden Octopuslaternen von Bruno, und
jedes Mal, wenn ich so eine glänzende Octopuslaterne sehe, denke ich mir, es
sei die glänzende Octopuslaterne von Bruno, dessen bin ich mir jedes Mal
sicher, wenn ich eine sehe, ich habe noch nie eine matte Octopuslaterne von
Bruno gesehen, nur glänzende, so erkenne ich sie, wirklich, vielleicht gibt es
auch matte Octopuslaternen, aber diese habe ich bis jetzt noch nicht als Brunos
matte Octopuslaternen erkannt. Endlich öffnet die Tür und ich betrete die Toilette.
Auf dem Weg zurück zum Tisch
denke ich mir, Marianne würde nun selbstverständlich glauben, dass ich zwanzig
Minuten auf der Toilette verbrachte, weil ich diese gar nicht dafür benutzte,
wofür sie da war, sondern dafür, dass ich mich schön machte. Es ist ganz
logisch, sogar natürlich ist es, dass sich Marianne denkt, ich habe mich auf
der Toilette schön gemacht, es ist menschlich, dass sie so über mich denkt, ich
würde auch genau so über mich denken, wenn ich zwanzig Minuten auf mich
wartete, während ich mich auf der Toilette schön machte, dabei war das aber
überhaupt nicht so. Ich wartete 17 Minuten vor der Toilette, weil die
Warteschlange davor so lang war, und drinnen in der Toilette war ich also
insgesamt nur drei Minuten geblieben. Es stimmt, ich gebe zu, dass ich, als ich
zu Marianne sagte, ich würde auf die Toilette gehen, daran dachte, mich dort
noch kurz schön zu machen, das stimmt, aber als ich dort angekommen war und die
Warteschlange davor sah, gab ich diesen Plan sofort auf und beschloss, die
Toilette ausschließlich dafür zu benutzen, wofür sie da war. Als ich drinnen
vor dem Spiegel stand, überlegte ich noch ganz kurz, die kleine Tasche
herauszuziehen, die Lidschatten nachzumalen und den dunklen Lippenstift
aufzutragen, aber als ich mich so im Spiegel sah, wie ich in jenem Moment aussah,
dachte ich mir, ich sei sowieso perfekt, ich müsse nichts mehr machen, das
dachte ich mir, als ich mich sah, obwohl ich mir sowas nicht so oft denke, aber
in jenem Moment vor dem Spiegel, als ich mich sah, dachte ich mir das wirklich
so, ich schaute in mein Spiegelbild und da war an mir nichts mehr zu tun, egal
wie lange ich in mich schaute. Mit diesen Gedanken spaziere ich also zurück zu
dem Tisch, wo die Marianne auf mich wartet und fühle schon, wie ich mich
schuldig fühle, obwohl ich keinen Grund dafür habe. Dass ich fühle, wie ich
mich schuldig fühle, nervt mich. Es ist mir klar, Marianne geht davon aus, ich
habe diese zwanzig Minuten auf der Toilette für mein Gesicht gebraucht, um es
schön zu machen, während sie am Tisch geduldig auf mich wartete. Sie sitzt wie
ein Engel am niedrigen Retro-Tisch mit einem geraden Rücken, obwohl es leicht
passieren könnte, dass sie sich bei so einem niedrigen Retro-Tisch doch etwas
nach vorne beugen würde, aber das tut sie nicht, sie sitzt engelsgleich mit
einem geraden Rücken an einem niedrigen Retro-Tisch und ihr langes, braunes,
gewelltes Haar fällt auf ihren geraden Rücken, sie sieht wunderschön aus. Als
ich meinen Stuhl nehme, fühle ich, dass ich mich noch schuldiger fühle, als ich
mich auf dem Weg zum Stuhl fühlte, und setze ein entschuldigendes Lächeln auf
mein schönes Gesicht auf und ich verachte mich selbst dafür, für dieses
entschuldigende Lächeln, denn wofür setze ich so ein entschuldigendes Lächeln
auf mein schönes Gesicht auf, frage ich mich, wenn es doch nicht meine Schuld
ist, dass ich so lange auf der Toilette war, es ist die Schuld der langen
Warteschlange davor, aber nicht meine, und ich spüre sie schon, ich spüre schon
die Gedanken, die von Marianne auf mich projiziert werden, ich sehe ihre
großen, hellbraunen Augen, wie sie mich anschauen, rein und erhaben, sie sagen,
ich weiß, warum du so lange auf der Toilette warst, du hast dich schön gemacht,
ich sehe schon, wie mich große, hellbraune Augen mit diesem Gedanken in der
Pupille ansehen, deswegen schaue ich sie erstmal gar nicht an, ich höre
Mariannes sanfte Stimme in mir, wie sie sagt, schön siehst du aus, ich höre sie
ganz klar, deswegen versuche ich zu reden, damit sie keine Chance hat, es zu
sagen, während ich mit entschuldigendem Lächeln auf meinem schönen Gesicht in
die matte Platte des niedrigen Retro-Tisches starre und ihr nicht in die
großen, hellbraunen Augen schaue, als hätte ich wirklich das getan, was ich gar
nicht getan habe. Das Ganze stimmt nun wirklich nicht, wie ich ja weiß, ich
habe mich auf der Toilette nicht schön gemacht, warum solle sie mir also sagen,
ich sei jetzt schön, nachdem ich von der Toilette zurückgekommen bin, wenn ich
schon, bevor ich auf die Toilette ging, schön war, ich habe es doch gesehen,
ich habe es ganz klar im Spiegel gesehen, als ich die Toilette betrat, im
Spiegel habe ich gesehen, dass ich schön war, und wenn ich das so im Spiegel
gesehen habe, musste ich schon davor schön sein, ich bin es nicht aufgrund der
Toilette geworden oder gar aufgrund des Spiegels, ich musste schon davor schön
gewesen sein, wahrscheinlich schon lange davor, schon seit ich in der Früh
aufgestanden bin, musste ich schön sein, ich bin es nicht erst im Café geworden
oder sogar erst vor kurzem auf der Toilette oder überhaupt erst, als ich in
mich im Spiegel schaute, ich war es schon lange davor, seit in der Früh war ich
schon schön, ich bin schön aufgewacht, aber wenn die Marianne mir jetzt sagt,
ich sei schön, nachdem ich von der Toilette zurückgekommen bin, dann heißt das,
ich bin ihrer Meinung nach erst in der Toilette schön geworden. Und das ist
einfach ein Unsinn, so war das heute nicht. So denke ich, die ganze Zeit denke
ich so darüber nach, während ich mich zurück an die rechte Seite von Marianne
setze und die matte Retro-Tischplatte anlächele, bis ich es nicht mehr aushalte
und sie von mir aus links direkt ins Gesicht zentriere. Und dann kommt es, ich
sehe, wie sie mich mit ihrem großen, hellbraunen Augenpaar rein und liebevoll
anschaut und mit ihrer zarten, dunklen Stimme sagt, oh schön, schön bist du!
Und mich trifft es, es trifft mich direkt in meine Mitte, ich stottere über die
lange Warteschlange vor der Toilette und ich spüre, dass sie mir kein Wort
glaubt, dann sage ich als Ablenkung, wir sollen zahlen, und sie lächelt noch
glücklicher, sie habe schon alles bezahlt, ruft sie, und als ich das höre, als
ich also höre, sie habe schon alles bezahlt, geht mein Funke in mir aus und ich
schaue ihr ausdruckslos ins Gesicht, ich schaue ausdruckslos in Mariannes
Gesicht, denn mein Funke ist ausgegangen, als sie sagte, sie habe schon alles
bezahlt, und ich habe ihr nichts mehr zu sagen, weil mein Funke aus ist. Ich
habe verloren, doppelt verloren habe ich, zuerst sagt sie mir direkt ins
Gesicht das mit dem Schönsein nach meinem Toilettenbesuch und dann bezahlt sie
auch noch für mich, weil sie ganz genau weiß, dass ich nichts habe, womit ich
zumindest für mich, wenn schon nicht auch für sie oder sogar für uns beide bezahlen könnte. Aber wenn sie
es so offensichtlich tut, einfach in meiner Abwesenheit bezahlt, so dass ich
mich nicht einmal dagegen wehren kann, dass sie nicht nur für sich, sondern
auch noch für mich zahlt, dann habe ich nichts mehr zu sagen, weil jetzt mein
Funke aus ist. Sie hat mit mir das Hin-und-her-Spiel nicht mehr spielen wollen,
denke ich mir, unser Hin-und-her-Spiel, das wir immer in Cafés spielen, wo ich
sage, dass ich doch selber meinen Tee bezahle und zuerst mein Portemonnaie und
danach das Geld aus meinem Portemonnaie heraushole, obwohl wir beide wissen,
dass ich es eh gleich wieder einstecken werde, zuerst das Geld und danach das
Portemonnaie, denn es ist ja beiden ganz klar, dass ich doch gar nicht bezahlen
kann, selbst wenn ich zuerst das Portemonnaie und danach das Geld heraushole,
ist uns beiden ganz klar, dass ich meinen Tee ja nicht alleine bezahlen kann
und auch nicht ihren und auch unsere beiden Tees kann ich nicht alleine
bezahlen, aber trotzdem gehört es sich aus Respekt vor einem selbst, also mir
selbst, dieses Hin-und-Her-Spiel zumindest für ein paar Sekunden zu spielen und
zuerst das Portemonnaie und danach das Geld herauszuholen, bis man das Geld und
danach das Portemonnaie wieder einstecken darf. Das weiß Marianne ganz genau
und doch hat sie mir unser Hin-und-her-Spiel jetzt verweigert, weil ich zwanzig
Minuten auf der Toilette war und mich ihrer Meinung nach schön machte, deswegen
hat sie mir das Hin-und-her-Spiel verweigert und einfach ihren und meinen Tee
bezahlt ohne das Hin-und-her-Spiel, einfach so, ja was soll ich jetzt noch dazu
sagen, ich stehe plötzlich wie eine Frau da, die sich auf der Toilette zwanzig
Minuten schön macht und dann nicht einmal
den Anschein gibt, als würde sie ihren Tee alleine bezahlen können, weil
Marianneå glaubte, während ich mich ihrer Meinung nach zwanzig Minuten lang auf
der Toilette schön machte, nichts Besseres zu tun zu haben, als neben ihren
gleich noch meinen Tee zu bezahlen. Marianne ist mir einen Schritt im Voraus
gewesen, denke ich mir, wegen jener Warteschlange vor der Toilette mit Brunos
glänzender Octopuslaterne und einem Bild von Jane Fonda im glänzenden weißen
Kostüm aus den siebziger Jahren, auf welches das Cafémanagement mit einem
schwarzen Stift Damen draufkritzelte,
ist sie mir einen Schritt im Voraus gewesen und hat mir das Hin-und-her-Spiel
verweigert, denke ich mir, die ganze Zeit denke ich mir das, während wir unsere
Jacken anziehen und das Café verlassen, denn ich werde bald jemanden küssen und
Marianne begleitet mich dahin, wo ich das tun werde.
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